Als sie noch zur Schule ging, fiel Claudia Jenni höchstens mit guten Noten auf. Sie begriff schnell, und das Lernen fiel ihr leicht. Im Unterricht war sie mit
ihren Gedanken aber oft woanders. Sie sass relativ ruhig auf ihrem Stuhl, nur ihr wippendes Bein verriet ihre Unruhe. Kaum sichtbar war auch ihre Zerstreutheit. Vergessene
Hausaufgaben erledigte sie kurz vor dem Unterrichtsbeginn. Und den zu Hause liegen gelassenen Turnbeutel holte sie heimlich in der grossen Pause.
«Ich hatte schon damals den Eindruck, anders zu sein», erinnert sich die heute 45-Jährige. «Und ich hatte oft Angst, etwas falsch zu machen und nicht den
Erwartungen zu entsprechen.» Nur zu Hause bei ihren Eltern und Geschwistern konnte sie ganz sie selbst sein: «Wild, chaotisch, redselig, mitreissend und voller Ideen.»
Jahrzehnte später, mit 42 Jahren, fand Claudia Jenni einen Namen für dieses Anderssein: Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS. Diese galt lange
Zeit als Entwicklungsstörung, die vorwiegend Buben betrifft und sich mit der Zeit auswächst. Beide Annahmen sind inzwischen überholt. Mindestens 5 Prozent aller Kinder sind
von ADHS betroffen, viele Fachleute gehen heute davon aus, dass fast genauso viele Mädchen wie Buben darunter sind. Und rund 80 Prozent von ihnen haben auch noch als
Erwachsene Symptome.
Galt ADHS bis in die 1980er-Jahre als Folge schlechter Erziehung, so geht die Fachwelt heute davon aus, dass ADHS meist vererbt wird. Forschungen haben gezeigt,
dass Betroffene oft eine leicht veränderte Gehirnstruktur haben. Diese ist mit einem Ungleichgewicht an Botenstoffen wie Dopamin und Noradrenalin verbunden, die für Funktionen wie
Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Planung zuständig sind.
Als vor vier Jahren eines ihrer Kinder eine ADHS-Diagnose erhielt, dachte Claudia Jenni zuerst nicht daran, dass auch sie ADHS haben könnte. «Ich bin ganz anders
als mein Kind, das es nicht lange auf einem Stuhl aushält.» Doch dann las sie in einer Zeitschrift einen Artikel über Frauen mit ADHS. «Während ich den Text las, liefen mir die
Tränen runter», erzählt sie. «Denn ich erkannte mich in diesen Frauen.» Die Psychiaterin, die sie danach aufsuchte, bestätigte nach einer gründlichen Abklärung den
Verdacht.
Dass Frauen erst spät von ihrer ADHS erfahren, ist keine Seltenheit. «Mädchen und Frauen erhalten, wenn überhaupt, die Diagnose meist deutlich später als Jungs
oder Männer, häufig erst im Erwachsenenalter», sagt die deutsche Psychotherapeutin Christine Carl, die mit drei Freiburger Fachkolleginnen ein Buch über die Welt der Mädchen und
Frauen mit ADHS geschrieben hat.
«Mädchen und Frauen mit ADHS sind immer noch
unterdiagnostiziert», bestätigt die Psychiaterin Ursula Davatz von der Beratungsstelle ADHS20plus in Zürich.
Das liege daran, dass Mädchen ihre Symptome mehr unterdrücken oder verbergen würden, weil sie die Erwartungen anderer erfüllen möchten. Die Gründe dafür seien
biologischer wie gesellschaftlicher Natur. «Weibliche Hormone führen dazu, dass Mädchen und Frauen sich eher anpassen», sagt Ursula Davatz. «Zudem fördern auch weibliche
Rollenbilder diese Anpassung.» Von Mädchen werde eher erwartet, dass sie brav und ruhig sind, als von Jungen.
Ein Chaos im Kopf
Zeigen Mädchen Auffälligkeiten, sehen diese oft anders aus als bei Jungen. «Betroffene Buben fallen häufig als Zappelphilippe auf, sie sind wild, laut, reden
dazwischen und stören in der Schule», erklärt die Freiburger Psychiaterin Swantje Matthies, Mitautorin des Buches. «Mädchen und Frauen leiden hingegen oft eher unter einem Chaos
im Kopf, einer inneren Anspannung und Unruhe sowie einer Reizüberflutung.»
Die Reizüberflutung bei ADHS entsteht, weil das Gehirn nicht zwischen unwichtigen und wichtigen Eindrücken unterscheidet und viele Informationen gleichzeitig
verarbeiten muss. «Menschen mit ADHS nehmen mehr wahr als andere», sagt Ursula Davatz, die sich schon früh auf ADHS spezialisierte und mehr als 40 Jahre Erfahrung auf diesem
Gebiet hat. Weil so viele Reize ungefiltert auf die Betroffenen einwirken, sei die Ablenkbarkeit entsprechend hoch.
Ein weiteres Merkmal der ADHS ist Impulsivität. Sie zeigt sich dadurch, dass jemand spontan und unüberlegt handelt, also Mühe hat, seine Impulse zu kontrollieren.
Bei Frauen mit ADHS sei die Impulsivität oft weniger ausgeprägt oder weniger sichtbar, sagt die Freiburger Psychotherapeutin Christa Koentges, ebenfalls Mitautorin des Buches «Die
Welt der Frauen und Mädchen mit AD(H)S». «Diese Frauen möchten am liebsten jemandem ins Wort fallen, weil es ihnen nicht schnell genug geht und sie innerlich unruhig werden. Sie
haben aber schon früh gelernt, diese Impulse zu unterdrücken.»
Das ständige Anpassen an die Erwartungen anderer kostet viel Energie. «Die betroffenen Frauen sind sehr gut darin, zu erspüren, was andere brauchen, und stellen
oft ihre eigenen Bedürfnisse zurück», sagt Ursula Davatz. Denn Menschen mit ADHS seien sensibel und empathisch.
All dies fordere mit der Zeit seinen Tribut, erklärt die Psychiaterin. So komme es spätestens im Erwachsenenalter oft zu Folgeerkrankungen wie einer
Erschöpfungsdepression oder Angststörungen. «Wenn die Anforderungen nochmals steigen, sei es im Beruf oder in einer neuen Rolle als Mutter, suchen Frauen oft professionelle Hilfe
auf. Im besten Fall erkennt die Fachperson dann, dass hinter der Depression eine ADHS steckt.»
So war es bei Nadine Ruf, 36, die in Wirklichkeit anders heisst und ihre Diagnose nicht öffentlich machen möchte. Die Grafikerin litt jahrelang an einer
mittelschweren Depression. Aufgrund eines Ortswechsels suchte sie eine neue Psychotherapeutin auf. Diese empfahl ihr, eine ADHS-Abklärung zu machen. Das tat Nadine Ruf – und
erhielt letztes Jahr die Diagnose ADHS vom unaufmerksamen Typ. Er ist auch unter dem Namen ADS bekannt, ohne das H für Hyperaktivität. Bei dieser Form steht die Unaufmerksamkeit
im Vordergrund, «diese Mädchen und Frauen sind verträumt, meist langsam und introvertiert, weil sie über Erlebtes viel nachdenken müssen», sagt die Psychiaterin Ursula
Davatz.
Verloren ohne Agenda
Anfangs war Nadine Ruf skeptisch, «ich dachte, ADHS passe nicht zu mir, denn ich hatte als Kind keine Probleme in der Schule». Doch als sie sich näher damit
beschäftigte, ergab vieles Sinn. Weshalb es ihr schwerfällt, bei einer Aufgabe zu bleiben. Wieso sie ohne ihre digitale Agenda verloren ist. Weshalb sie nicht mehr weiss, was
andere ihr erzählt haben, obwohl es wichtig war. Und warum es ihr nach Anlässen mit vielen Leuten oft schlecht geht.
Claudia Jenni erging es nach der Diagnose ähnlich. «Plötzlich hatte ich eine Erklärung für Dinge, die mir so viel schwerer fallen als anderen.» So musste sie als
Teenager das Gymnasium verlassen, weil sie sich nicht aufraffen konnte, für verhasste Fächer wie Französisch und Geschichte zu lernen.
Sie studierte dann später trotzdem, aber an der Fachhochschule – Betriebswirtschaft, was ihr mehr entsprach. Auch für Hürden im Alltag hatte sie plötzlich eine
bessere Erklärung als ihre vermeintliche Faulheit. «Ich kriege es einfach nicht hin, einen Wochenplan für das Essen zu machen oder die Küche nach dem Znacht immer schön
aufzuräumen.»
Die Psychiaterin Ursula Davatz bestätigt, dass die Aufschieberei von langweiligen Aufgaben bei Menschen mit ADHS nichts mit Faulheit zu tun hat. «Ihr Gehirn
streikt, wenn sie etwas langweilig finden», erklärt sie. «Erscheint ihnen ein Thema spannend, können sie sich jedoch stundenlang konzentrieren.» Dieses Phänomen nennt sich
«Hyperfokus».
Bei ADHS von einem reinen «Aufmerksamkeitsdefizit» zu sprechen, sei deshalb falsch, findet die Psychotherapeutin und Mitautorin Christa Koentges. Betroffene
hätten eher ein Aufmerksamkeitssteuerungsdefizit. «Das Gehirn sucht sich selbst seinen Fokus, und das ist nicht unbedingt das, was gerade bearbeitet werden sollte.» Claudia Jenni
kennt diesen Hyperfokus nur zu gut, sie vertieft sich oft stundenlang ohne Unterbruch in ein Thema, das sie interessiert. Nach der Diagnose begann sie, innert kürzester Zeit
Dutzende von Büchern zum Thema ADHS zu verschlingen.
Der Hyperfokus ist nur eine von vielen Stärken von Menschen mit ADHS. Sie werden als überdurchschnittlich kreativ, neugierig, begeisterungsfähig und einfühlsam
beschrieben. Manche Fachleute sind gar der Ansicht, ADHS sei keine Krankheit. So auch Ursula Davatz. Für sie ist ADHS lediglich eine Neurodiversität des Gehirns. «ADHS-Gehirne
funktionieren einfach anders», erklärt sie.
Ein Leidensdruck entstehe dann, wenn das Umfeld Anforderungen stellt, die sie nicht erfüllen können. Und wenn sie dafür Ablehnung erfahren. «In einem passenden
Umfeld, in dem ADHS-Betroffene ihren Fokus finden, können sie hingegen ihre Stärken ausleben», sagt Ursula Davatz.
Leidensdruck kann gross sein
Auch die Freiburger Expertinnen betonen im Buch die Stärken der Mädchen und Frauen mit ADHS. «Es ist eine positive Entwicklung, dass Anderssein weniger
stigmatisiert wird», sagt die Psychiaterin und Mitautorin Ismene Ditrich. Gleichzeitig sei es aber wichtig, ADHS nicht zu verharmlosen. «Es stimmt, dass das Gehirn von
ADHS-Betroffenen anders funktioniert. Dies kann jedoch zu Einschränkungen führen, die einen hohen Leidensdruck auslösen.» In ihrem Arbeitsalltag würden sie oft auf Frauen treffen,
die sich deswegen medizinische und psychotherapeutische Unterstützung wünschen.
Die bekannteste Behandlungsmöglichkeit von ADHS ist das Medikament Ritalin. Es enthält den Wirkstoff Methylphenidat, der die Symptome von ADHS abschwächt. Auch
wenn Ritalin und Co. in der Bevölkerung einen schlechten Ruf haben, gelten sie in der Fachwelt als sehr wirksame Mittel.
Claudia Jenni nimmt regelmässig Methylphenidat ein. «Wenn ich die Tablette nehme, schaffe ich es, meine Pendenzen Stück für Stück abzuarbeiten. Nehme ich es
nicht, bleibt vieles liegen.» Für sie ist das Mittel eine grosse Unterstützung. «So wie andere eine Brille tragen, um besser zu sehen, schlucke ich ein Medikament gegen meine
Ablenkbarkeit.» Auch Nadine Ruf berichtet, wie fokussiert sie bei der Arbeit ist, wenn sie das Mittel einnimmt. Nebenwirkungen wie Appetitverlust, Herzklopfen oder Schlafprobleme
traten bei beiden Frauen nur in den ersten zwei Wochen auf.
«Medikamente wie Ritalin helfen Betroffenen, sich besser zu konzentrieren», bestätigt Ursula Davatz. Sie findet es jedoch wichtig, dass Psychiaterinnen und
Psychiater nicht nur eine Diagnose stellen und Medikamente verschreiben. Sie arbeitet mit ihren Patientinnen und Patienten vor allem daran, einen besseren Umgang mit sich und
ihrer ADHS zu finden. Ursula Davatz ist auch als Familientherapeutin ausgebildet und bezieht wenn möglich die Angehörigen in die Psychotherapie mit ein.
Neben der Psychotherapie hat sich auch Achtsamkeit bewährt. «Wer Achtsamkeit übt, übt, die Aufmerksamkeit bewusst zu lenken», erklärt die Freiburger
Psychotherapeutin und Mitautorin Christa Koentges.
Das Trainieren der Achtsamkeit könne ausserdem zu mehr emotionaler Ausgeglichenheit führen. «Dies ist für Menschen mit ADHS besonders hilfreich, da bei ihnen
intensive Gefühle schnell wechseln.» Wichtig sei dabei, einen Einstieg in die Achtsamkeit zu finden, der zu einem passt. Frauen mit ADHS hätten aufgrund ihrer inneren Unruhe
häufig Schwierigkeiten, längere Zeit den Atem zu beobachten. «Ihnen liegen häufig aktivere Formen mehr, etwa achtsam wahrzunehmen, was man gerade hört, sieht oder riecht.»
Ebenfalls gute Erfahrungen mit Achtsamkeit hat Claudia Jenni gemacht. Sie benutzt die App Headspace, die viele unterschiedliche Meditationen anbietet. Nadine Ruf
geht lieber in der Natur spazieren oder treibt Sport, vor allem, wenn sie sich überreizt fühlt.
Strategien für die Akzeptanz
Nebst Psychotherapie und Achtsamkeit gibt es auch Coachings für Menschen mit ADHS. Claudia Jenni hat ein solches online bei einer Trainerin aus den USA
absolviert. «In diesem Coaching ging es weniger um Tipps, wie man den Alltag besser organisiert», erklärt sie. «Ich habe dort gelernt, mich und mein ADHS zu akzeptieren und mein
Selbstwertgefühl zu stärken.»
Sie könne heute besser auf ihre Bedürfnisse achten und setze sich weniger unter Druck: «Es ist okay, dass meine Wohnung nicht so aufgeräumt ist wie bei anderen.»
Claudia Jenni war so begeistert vom Kurs, dass sie beschloss, selbst Coach zu werden. Nach einer Ausbildung in diesem Bereich arbeitet sie seit einem Jahr als ADHS-Coach für
Erwachsene. Zudem leitet sie eine Online-Gruppe für Betroffene. «Es macht mir eine Riesenfreude, Menschen mit ADHS zu helfen, ihren Weg zu finden und ein leichteres Leben zu
führen.»
ADHS: Ursachen, Formen, Diagnose
Die Ursachen der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind unklar. Unbestritten ist, dass eine genetische Veranlagung und Umwelteinflüsse bei der
Entstehung eine Rolle spielen. So können Rauchen und Alkoholkonsum in der Schwangerschaft, Frühgeburten oder ein geringes Geburtsgewicht das Risiko für ADHS beim Kind erhöhen.
Unterschieden werden drei Formen:
Vorwiegend hyperaktiv und impulsiv
Rund 5 Prozent der Betroffenen gehören zu diesem Typ.
Vorwiegend unaufmerksam
Rund 20 Prozent der Betroffenen gehören zu diesem Typ.
Kombinierter Typ
Rund 75 Prozent gehören zu diesem Typ.
Die Diagnose von ADHS im Erwachsenenalter wird meist von spezialisierten Psychiaterinnen oder Psychiatern gestellt. Dafür greifen sie auf Interviews,
Verhaltensbeobachtungen und Fragebögen zurück.
Wichtig ist bei der Abklärung auch, andere neurologische Erkrankungen und psychische Störungen auszuschliessen, die ähnliche Symptome auslösen können.
Neuere Forschungen zeigen, dass bei einem Teil der Menschen mit ADHS auch eine Autismus-Spektrum-Störung vorliegt. So gibt es Überlappungen bei Symptomen wie
Unaufmerksamkeit, Reizüberflutung und Impulsivität.
Wie eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) und eine Autismus-Spektrum-Störung (ASS) genau zusammenhängen, ist derzeit Gegenstand intensiver
Forschungen.
Was ist Neurodiversität?
Der Begriff Neurodiversität bedeutet neurologische Vielfalt. Geprägt hat ihn die australische Sozialwissenschaftlerin und Autistin Judy Singer in den
1990er-Jahren. Inzwischen hat sich eine Neurodiversitäts-Bewegung gebildet, die erreichen will, dass Entwicklungsstörungen wie Autismus, ADHS oder Lernschwächen wie Dyskalkulie
und Dyslexie nicht mehr als Krankheiten betrachtet werden. Sie seien vielmehr Ausdruck neurologischer Vielfalt.
Aus dieser Perspektive funktionieren Gehirne von Menschen mit ADHS oder ASS (Autismus-Spektrum-Störung) einfach etwas anders als sogenannte neurotypische Gehirne.
Diese Andersartigkeit wird als Neurodivergenz bezeichnet. Kritische Stimmen meinen, der Begriff verharmlose den Leidensdruck und Therapiebedarf vieler Betroffener. Befürwortende
sehen darin einen Schritt zu mehr Akzeptanz und Inklusion von Menschen, die nicht der Norm entsprechen.